Die Rechten setzen sich für Familien und Benachteiligte in der Pandemie ein und werden dafür von allen Seiten gefeiert – beides ist problematisch
Das Video der Journalistin und Moderatorin Marlene Lufen hat mich in den letzten Tagen sehr beschäftigt. Ihre Botschaft ist viral gegangen, über 10 Millionen Aufrufe hat das Video bei Instagram bis zum jetzigen Zeitpunkt erreicht. Zu Beginn des Videos sagt Lufen, sie trage seit langer Zeit eine „große Sorge“ mit sich herum, nämlich, dass wir in zwei oder drei Jahren zurückblicken und feststellen, dass wir mit dem Lockdown das „falscheste gemacht haben, was wir hätten machen können“. Und zu Recht sagt die Moderatorin, dass auch während einer Pandemie Depressionen oder Angststörungen und auch sonst alle Erkrankungen - körperliche wie seelische - vorhanden sind. Des Weiteren macht sie darauf aufmerksam, dass auch während einer Pandemie Gewalt nicht einfach so verschwindet, aber dass genau diese Problematik in den letzten Monaten – aus ihrer Sichtweise - zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Mit diesen Aussagen scheint sie einen Nerv getroffen zu haben, und leider im Besonderen bei den Rechten und den Maßnahmengegner*innen. Marlene Lufen ist selbst keine Akteurin von rechten Bewegungen, sie distanziert sich vehement, das erscheint mir glaubwürdig und doch hat sie jenen rechten Akteur*innen mit ihrer Video-Botschaft einen großen Gefallen getan und quasi unabsichtlich eine Brückenfunktion eingenommen.
Ja, der Lockdown zermürbt uns alle. Die einen mehr, die anderen weniger. Klar ist jedoch, dass all jene, die schon vor der Pandemie zu struggeln hatten, sehr viel mehr von den Maßnahmen und ihren Folgen betroffen sind. Deshalb stößt es mir ziemlich sauer auf, dass nun ganz bestimmte privilegierte Personen – wie etwa die Journalistin Marlene Lufen - plötzlich ihre Stimme erheben und sich auf einmal für bestimmte Gruppen einsetzen, für die sie sich zuvor nicht im Ansatz interessiert hatten. Natürlich ist es gut, wenn Leute ihre Reichweite nutzen, um auf Missstände aufmerksam zu machen und sich mit jenen, die marginalisiert sind, solidarisieren. Das ist nicht der Punkt. Vielmehr ist der Punkt, dass es ihnen nicht um eine langfristige oder nachhaltige strukturelle Veränderung geht. Ganz im Gegenteil. Sie wollen im Grunde ein ungerechtes, neoliberales und kapitalistisches System aufrechterhalten, weil sie Profiteure*innen des Systems sind.
In meinem Umfeld werden seit einiger Zeit Stimmen laut – von jenen, die sich klar von den Querdenkern und Rechten distanzieren -, dass die Maßnahmen nun beendet oder zumindest gelockert werden sollen. In den sozialen Netzwerken schreiben sie, dass es nun genug sei. Dass wir alle schon so viel aushalten mussten, dass wir alle - und vor allem Kinder und Jugendliche - unter den Kontakteinschränkungen leiden. Dass das Leid alleine durch die Schutzregeln entstehen würde und wir dieses Leiden endlich beenden müssen, weil es nicht mehr in einem vertretbaren Verhältnis zu den Maßnahmen stehe.
Ja, es ist so. Wir leiden. Die Forderungen nach Lockerungen und Beendigungen kann ich nachvollziehen. Mir geht es genauso: Ich sehne mich nach meinen Freund*innen, danach ins Theater oder spontan ins Kino zu gehen. Mir fehlen die Verabredungen, mir fehlen Menschen. Ich träume von dem Tag, an dem wir diese Pandemie zurücklassen können. Ich weiß, er wird kommen. Ich weiß aber auch, dass es noch dauern wird.
In der bindungsorientierten Bubble bekommen aktuell problematische Akteur*innen wie zum Beispiel Michael Hüter, Franz Ruppert, Gerald Hüther oder Dagmar Neubronner, sehr viel Aufmerksamkeit, Zuspruch und Applaus - sowohl von Eltern, also auch von (pädagogischen) Fachkräften. Michael Hüter spricht beispielsweise darüber, dass eine ganze Kindergeneration aufgrund der Maßnahmen traumatisiert werde oder bereits schon sei. Er teilt auf seiner Facebook-Seite fragwürdige Artikel mit polemischen Überschriften wie: Neue Studie: Gesichtsmasken sorgen bei Kindern für Reizbarkeit und Konzentrationsschwäche. Fachkräfte, wie etwa Erzieher*innen, Lehrer*innen, Psycholog*innen oder (Kinder-)Ärzte*innen melden sich seit einiger Zeit ebenso zu Wort und „schlagen Alarm“. Auch sie sehen das Leiden der Kinder, Jugendlichen und ihren Familien und geben zu bedenken, ob die Maßnahmen überhaupt noch moralisch zu vertreten sind.
Nun könnten wir sagen, es ist doch gut und wichtig, dass wir all diese Facetten beleuchten. Dass sich Eltern und Fachkräfte für jene einsetzen, die offensichtlich von der Politik vergessen werden. Dass wir bestimmte Gruppen der Gesellschaft sichtbar machen, die nicht die gleiche Lobby inne haben, wie die Lufthansa und andere große Konzerne. Wo bitte ist das Problem? Das Problem ist nicht in erster Linie die Kritik, die geäußert wird – die ja in vielen Teilen legitim und richtig ist. Vielmehr ist das Problem, dass falsche und fragwürdige Zusammenhänge erschlossen werden. Es werden Kausalitäten mit Korrelationen verwechselt. Komplexität wird so sehr vereinfacht, dass letztlich eine Verzerrung der Realität stattfindet.
Michael Hüter schreibt regelmäßig für das Online-Magazin Rubikon und war in den vergangenen Monaten gern gesehener Gast und Redner bei den Demos der Querdenken-Bewegung sowie der Elterninitiative Eltern stehen auf. Alleine diese Informationen, die innerhalb weniger Klicks zu recherchieren sind, sollten uns zu einem kritischen Nachdenken und genauerem Hinsehen verleiten und zwar aus folgenden Gründen:
Das Online-Magazin Rubikon wird von Michael Butter, der an der Eberhard Karls Universität Tübingen lehrt und u.a. ein europäisches Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien leitet, als ein alternatives Medium eingeordnet, das sich Verschwörungstheorien bedient. Rubikon steht in enger Verbindung zu KenFM, dessen Youtube-Kanal seit November 2020, aufgrund von mehrfachen Verstößen gegen die Community-Regeln und der Verbreitung von falschen Informationen in Bezug auf das Coronavirus, dauerhaft gesperrt wurde. Im Dezember 2020 schrieb Hüter einen Artikel für Rubikon mit dem Titel „Die verratene Generation“. Darin bringt er die Coronaschutzmaßnahmen mit totalitären Systemen in Verbindung und stellt damit nicht nur einen falschen, sondern vor allem auch einen gefährlichen Zusammenhang dar:
„Zur Erinnerung: Totalitarismus und Faschismus sind geistige Kinder Europas. Zwischen 1914 und 1970 haben in allen Welt- und Bürgerkriegen, in allen totalitären Gesellschaften Europas, sowohl mit rechten als auch mit linken Ideologien, rund 100 Millionen Menschen das Leben gelassen.
Alle totalitären Systeme Europas — Nationalsozialismus, Stalinismus, italienischer Faschismus, Francos Diktatur in Spanien et cetera — sie alle wurden nicht durch die Machthabenden, nicht durch die Führer und Befehlshaber ermöglicht, sondern ausnahmslos und immer wieder durch die tolerierende oder schweigende Mehrheit. Durch die Denunzianten, aber auch durch die Mutlosen und Ängstlichen. Durch die um ihr Hab und Gut Besorgten. Am Ende verloren fast alle dennoch alles: Hab und Gut, Ehre und Menschenwürde.“ (Hüter)
Hüter schreibt auch, dass Kinder und Jugendliche in der Pandemie keine Rolle spielen würden, da sie sich selten infizieren und kaum an Corona erkranken. Des Weiteren beschreibt er die Maßnahmen als eine „Menschenrechtskatastrophe“ und fordert die sofortige Beendigung der Maßnahmen für alle jungen Menschen in Deutschland und Österreich. Seine Artikel kommen gut an, allen voran bei jenen, denen die Maßnahmen aufgrund der Pandemie besonders zu schaffen machen. Und das sind nun mal Kinder, Jugendliche, Familien und strukturell benachteiligte Personen. Hüter vermittelt Eltern und Fachkräften, dass er die Kinder, die Familien und all ihr Leid sieht und ihre Bedürfnisse nach außen vertreten möchte. Genau danach sehnen sich die Familien.
Doch es ist gefährlich, wenn Hüter einen NS-Vergleich mit der aktuellen Pandemie zieht und damit zu verstehen gibt, dass wir in einer Diktatur leben. Denn das schürt Unmut und Hass. Er impliziert damit, dass es auf der einen Seite „die Guten“ gibt (das Volk) und auf der anderen Seite „die Bösen“, die die Macht über die Bürger*innen haben (die Regierung). Auf diese Weise wird ein schwarz-weiß-Denken konstruiert und ein Bild gezeichnet, das nichts mit der Realität zu tun hat, aber die Menschen gegenseitig aufstachelt und natürlich auch verunsichert. Würden wir in einer echten Diktatur leben, dann wäre es uns nicht erlaubt unsere Meinung frei zu äußern. Es gebe keine Parteienvielfalt mehr. Oder es würden willkürlich (ohne triftigen Grund) Maßnahmen ergriffen, die unsere aller Freiheit einschränken. Kleiner Realitätscheck: All das ist geschieht gerade NICHT. (Und nein, Antisemitismus und die Verbreitung von Falschinformationen sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.)
Damit möchte ich keinesfalls sagen, dass wir nicht die Maßnahmen kritisieren dürfen oder dass alles was gerade passiert richtig ist. Es geht nicht um „richtig“ und „falsch“ oder „schwarz“ und „weiß“. Ich finde es wirklich legitim kritisch zu sein und auch Maßnahmen zu hinterfragen. Ich verstehe, dass sich die Menschen nach einem „normalen“ Alltag sehnen. Dass sie sich nicht mehr länger vertrösten lassen wollen. Dass einige, nein sehr viele, an ihre Grenzen kommen. Das ist so. Das lässt sich nicht schön reden. Und das möchte ich auch nicht.
Was Akteure*innen wie Hüter und Bewegungen wie Querdenken sowie Eltern stehen auf eint, ist dasselbe Menschenbild. Und dieses basiert auf heteronormativen Werten. Es ist ein Menschenbild, das im Kern rassistisch und voller Hass gegenüber jenen ist, die nicht ihren binären, traditionellen Vorstellungen entsprechen. Nach außen geben sie sich demokratisch, weltoffen und liberal. Sie sehen sich sogar als Antifaschisten, in dem sie sich von den Nazis, dem Hitler-Regime und deren Ideologie abgrenzen und indem sie sagen, die Geschichte von damals dürfe sich nicht wiederholen. Hüter spricht zum Beispiel in einem aktuellen Interview davon, dass es wichtig sei Widerstand zu leisten. Er kritisiert die Gehorsamkeit jener Menschen, die der Regierung folgen und die Schutzmaßnahmen kritiklos umsetzen. Leute wie Hüter vergleichen sich gar mit Widerstandskämpfern aus der Nazi-Zeit, wie zum Beispiel mit den Geschwistern Scholl oder Anne Frank. Sie zitieren Hannah Arendt, die Schriften gegen Antisemitismus und Herrschaft verfasst hat. Sie wollen damit zeigen und beweisen, dass sie zu den „Guten“ gehören, dass sie in der Nazi-Zeit zu den Widerstandskämpfern gehört hätten. All das ist mehr Schein, denn tief im Kern sind sie genauso menschenverachtend und rassistisch wie jene Nazi-Akteure*innen vor siebzig Jahren. Der Unterschied ist: Ihre Theorie ist nicht mehr die Rassenlehre, sondern der Ethnopluralismus. Aus dieser Theorie werden rechtsextreme Forderungen abgeleitet und Hass gegenüber “Fremden” geschürt.
Nein, Michael Hüter, oder die Bürgerinitiative Eltern stehen auf, setzen sich nicht dafür ein, dass es Kindern und Familien strukturell und nachhaltig besser geht. Genau sie sind es nämlich, die Petitionen starten, um zu verhindern dass Kinderrechte in das Grundgesetz verankert werden. Sie schützen nur eine bestimmte Gruppe von Eltern, nämlich die, die in ihr heteronormatives Weltbild passen. Sie schützen die deutsche, bürgerliche, privilegierte Kleinfamilie mit gesunden Kindern und stellen sich gegen alle anderen Familienformen. Sie sind transfeindlich, behindertenfeindlich und rassistisch. Sie instrumentalisieren Kinder für ihr menschenverachtendes Weltbild. Sie sind gut darin einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte zu liefern. Sie fordern Lösungen, die anschlussfähig mit den Bedürfnissen vieler Menschen sind. Und die Forderung nach einer baldigen Beendigung der Corona-Schutzmaßnahmen ist gerade ziemlich anschlussfähig.
Doch die Pandemie verschwindet ja nicht deshalb, weil wir keine Lust mehr auf die Schutzmaßnahmen haben. Die Forderung nach Beendigung und dem Öffnen aller Lebensbereiche ist nachvollziehbar, denn ja, wir scheinen alle nach fast einem Jahr müde zu sein. Doch was dann passieren würde, wollen wir nicht und wäre auch ethisch nicht zu vertreten.
Was wir brauchen ist eine solidarische Lösung - und genau die vermisse ich bei den o.g. Akteure*innen. Sie sagen nichts darüber, wie wir Risikogruppen schützen (auch Kinder, Jugendliche und junge Menschen sind davon betroffen) und sie machen keine Vorschläge wie benachteiligte Familien dauerhaft und strukturell entlastet werden können. Eine mögliche Lösung wäre z.B. die Zero-Covid-Strategie in Verbindung mit einem solidarischen harten Shutdown.
Die Pandemie ist noch nicht vorbei und sie geht auch nicht weg, indem wir sie ignorieren. Vor allem aber dürfen wir den Rechten keine Chance geben, sich weiter auszubreiten.
Haltet durch. Ich weiß, es ist hart - und für einige noch mehr.
Solidarische und aktivistische Grüße
Sandra
PS: Wenn dir dieser Text gefallen hat und du meine Arbeit unterstützen möchtest, dann leite ihn gerne an Freunde*innen und Bekannte weiter.
Danke für diesen wertvollen Artikel....ich habe da wieder viele Fakten & Argumente für Gespräche und Aufklärung in meinem Umfeld bekommen. Das ist so wild....Danke! So hilfreich für mich!