Über die einzige Coaching-Veranstaltung und meinen Rückzug aus den sozialen Netzwerken
Während ich diesen Text beginne scheint mir die Sonne ins Gesicht und die Verbindung mit dem Internet bricht heute immer wieder zusammen. Dieser Newsletter soll nun wöchentlich erscheinen. Ich frage mich, ob ich das leisten kann und hoffe, dass ich nicht zu viel versprochen habe. Zumal ich nun auch jeden Sonntag auf dem Blog einen kurzen Artikel veröffentlichen möchte. Gleichzeitig macht das regelmäßige Schreiben etwas mit mir. Meine Gedanken lassen sich besser sortieren, ich habe sogar ein bisschen das Gefühl aufgeräumter zu sein. Und das Schreiben solcher Texte hat positive Auswirkungen auf meine wissenschaftliche Tätigkeit. Ein essentielles Problem, das ich habe, ist die Zeit. Denn Zeit lässt sich ja nicht vermehren, der Tag hat immer 24 Stunden und eine Stunde hat immer 60 Minuten. Daran lässt sich nichts rütteln. Je mehr Aufgaben wir uns am Tag vornehmen, desto weniger können wir uns einer einzelnen widmen.
Erst kürzlich musste ich daran denken, dass ich vor einigen Jahren auf einer Coaching-Veranstaltung von Christian Bischoff war. Damals befand ich mich im ersten Semester meines Bachelorstudiums und eine Freundin hatte mich auf jene Veranstaltung mitgeschleppt. Ich hatte keine Ahnung was da passieren sollte, geschweige denn worum es konkret ging. Ich habe Bischoff als einen großen schlaksigen Mann mit einem roten Stirnband in Erinnerung, an dessen Lippen die Menschen im Saal klebten. Teilweise konnte man eine Stecknadel fallen hören, so sehr hatte Bischoff uns - das Publikum - in seinen Bann gezogen. Er berichtete von seinen eigenen Niederlagen, wie er Rotz und Wasser geheult habe, als er seine Karriere als Profi-Basketballer aufgeben musste und wie er es geschafft habe heute trotzdem erfolgreich zu sein. Dies sei ihm nicht einfach in den Schoß gefallen, er habe an sich geglaubt und hart dafür gearbeitet. Und dann wandte er sich mit einer ernsten Miene an seine Zuhörer*innen und sagte: „Du kannst das auch schaffen!“ Er brüllte uns im Publikum regelrecht an und rief dabei immer wieder „Glaube an dich und deine Fähigkeiten“, während alle wie gebannt auf den Plätzen saßen und sich eine Spannung im Saal spürbar aufbaute. Am Ende der Veranstaltung sollten wir unsere Sitznachbar*innen in den Arm nehmen. Ich fand das damals ganz schon schräg, konnte das Gefühl allerdings weder in Worte fassen, noch in einen Kontext einordnen.
Ich versuche mich zu organisieren und zu strukturieren. Habe dennoch den Eindruck, ich könnte es noch besser machen. Ich könnte noch effizienter, noch schneller, noch leistungsfähiger arbeiten. Da scheint noch Luft nach oben zu sein, jedenfalls bekomme ich dies durch die Worte der Coaching-Gurus à la Bischoff so gesagt. Okay, meine eigene Organisation ist sicherlich noch optimierungsbedürftig, doch immerhin schaffe ich es die wichtigsten Aufgaben im Alltag zu bewältigen. Es gibt allerdings Tage, an denen ich all das, das gut läuft, nicht sehen kann. Weil ich dann nur jenes im Blick habe, das ich nicht geschafft habe. Dann sehe ich alles was nicht perfekt ist und woran ich (an mir) noch arbeiten müsste. Soziologe*innen sprechen bereits darüber, dass wir in einer sogenannten Optimierungsgesellschaft leben, da das Bestreben der Menschen nach einem Zustand der Vollkommenheit in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Der Begriff „Optimierung“ kommt ursprünglich aus dem ökonomischen bzw. technischen Bereich und hat erstmal nichts mit der eigenen Lebensführung oder dem sozialen Miteinander zu tun. Und doch wird er seit einigen Jahren auch für das Individuum und seine Entwicklung verwendet. Das Streben nach Verbesserung, ja danach dass das eigene Leben optimiert werden soll, hat einen großen (kapitalistischen) Markt hervorgebracht. Schon alleine das Scrollen durch meine Social-Media Kanäle zeigt mir, welch ein großes Angebot in Form von Blogs, Vorträgen oder (Online-)Seminaren, es mittlerweile im Bereich Coaching für eine optimale Lebensführung gibt. Das Gleiche gilt, wenn ich mich in einer Buchhandlung aufhalte, denn die Ratgeber für Lebenshilfen drängen sich mir regelrecht in mein Blickfeld auf. Dabei wird mir latent suggeriert, dass ich noch nicht das Beste aus meinem Leben herausgeholt habe.
Mein Leben besteht aktuell aus grob drei Bereichen: Lohnarbeiten, Masterarbeit schreiben, Care-Arbeit. Und große Überraschung: Ich bekomme mitnichten alles unter einen Hut. Denn alle drei Bereiche können mit 341 Unterpunkten gefüllt werden und es wäre eine Illusion zu glauben, dass ein Mensch ganz alleine, all diesen Aufgaben gewachsen wäre. Ich komme regelmäßig (also fast täglich) an meine Grenzen, ich bin gefrustet, erschöpft und wütend. All die Aufgaben und Anforderungen, die an mich in den unterschiedlichsten Rollen herangetragen werden, kann ich nicht kontinuierlich zur vollsten Zufriedenheit erfüllen - auch wenn dies im Grunde (unausgesprochen) erwartet wird. Gleichzeitig ist es nicht unbedingt einfacher sich den Anforderungen zu entziehen, denn das würde Fragen aufwerfen und einen vielleicht zum Außenseiter machen. Kritik zu üben oder sich gegen einen Zustand aufzulehnen, benötigen wiederum Ressourcen, die uns nicht selbstverständlich (oder zu jedem Zeitpunkt) zur Verfügung stehen. Da ist es manchmal einfacher (und vor allem ressourcenschonender) sich erstmal den Anforderungen - so gut es irgendwie geht -, zu fügen und am Abend völlig erschöpft auf dem Sofa einzuschlafen. Auch wenn dies natürlich keine Lösung ist, doch eines muss uns in dieser Sache auch klar sein: Es ist ein Privileg Kritik auszusprechen oder Aktivismus zu betreiben.
Der langsame Rückzug aus den sozialen Medien tut meiner Seele gerade richtig gut. Ich habe tatsächlich auch nicht mehr das Verlangen ständig meine App zu öffnen, um zu schauen was gerade passiert. Vor allem nehme ich wahr, dass mich der Konsum nicht nur anstrengt, sondern dass er mich regelmäßig auch richtig runterzieht. Nach einer halben Stunde Instagram bin ich wie ausgelaugt, manchmal sogar richtig schlecht gelaunt. Noch vor ein paar Monaten war es mir wichtig in den sozialen Netzwerken (kostenlose) Aufklärungsarbeit zu leisten. Mir war es wichtig über bestimmte Themen zu schreiben. Es war mir wichtig meine Stimme zu erheben und auf ungleiche Strukturen, auf Diskriminierung, Faschismus oder Verschwörungen aufmerksam zu machen. Viele Stunden und viel Kraft habe ich für diese Arbeit (ja, das war Arbeit) verwendet und obwohl ich das wirklich von Herzen getan habe, kann ich das nicht leisten. Nicht auf diesem Niveau. Nicht auf Dauer. Und schon gar nicht kontinuierlich. Ich fühlte mich irgendwann einfach nur noch erschöpft, da ich ständig das Gefühl hatte, ich müsste mich komplett verausgaben, um meine Abonnent*innen täglich bei der Stange zu halten. In den Phasen, in denen ich relativ viel Content produziert habe, kamen mehrere Stunden am Tag zusammen, die ich allein(!) für Instagram aufgewendet habe. Wenn ich mir dies heute bewusst mache, kommt mir das ziemlich ungesund vor.
Mir ist klar: Ich möchte schreiben, ich möchte auch meine Stimme gegen Ungerechtigkeiten erheben und ich möchte Aufklärungsarbeit leisten, allerdings ohne das Streben nach Likes und ohne mich so zu verausgaben, dass ich das Gefühl habe mich damit selbst auszubeuten. Ich bin nicht mehr bereit jeden Preis zu bezahlen, ich bin nicht bereit meine Gesundheit und meine (kostbare und vor allem wenige) freie Zeit aufzuwenden, um am Ende dann zu Grunde zu gehen.
Ich befinde mich gerade in einer Phase des Sortierens, vielleicht auch des Aufräumens und dies tue ich unter anderem durch das Schreiben solcher Texte. Der Prozess des Schreibens hat etwas Sinnstiftendes, ich genieße es gerade länger an einem Text dran zu bleiben und mich in ein Thema intensiver hineinzudenken ohne gleich daran zu denken, wie er ankommet. Ich kann aus einem solchen kreativen Schreibprozess Kraft schöpfen und ich habe das Gefühl mich wieder besser auf das Wesentliche konzentrieren zu können.
Mein mentales Aufräumen, mein Rückzug aus den sozialen Netzwerken bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ich mich nicht mehr in den gesellschafts-politischen Diskurs einbringen möchte. Ich werde (und muss) meine Ressourcen einteilen, ich brauche sie nicht nur für mich, sondern auch für meinen Aktivismus. Denn es gibt einiges zu tun. Ja, meine Stimme bleibt. Auch im Netz, aber eben nicht nur und vor allem anders.
Passt auf euch auf, herzlichst
Sandra
PS: Wenn du mich und meine Texte auf irgendeine Weise unterstützen möchtest, dann erzähle gerne deinen Freund*innen, Bekannten oder Kolleg*innen von diesem Newsletter und / oder von meinem Blog. Vielen Dank.
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